Sterben lernen
Der Auto Felix Hütten hat ein Buch geschrieben, das den Umgang mit der Sterben erleichtert.
Felix Hütten ist ein junger Mann. Er hat ein Buch über das Ableben geschrieben, das jeder lieber ungelesen in die Ecke legen möchte. Tod und Sterben sind – im Gegensatz zu früher – gesellschaftliche Tabus. Umso wichtiger ist es, dass gerade ein junger Mann einen Zugang dazu schafft.
Felix Hütten ist Jahrgang 1987. Er arbeitet derzeit als Medizinjournalist im Wissensressort der „Süddeutschen Zeitung“. Für Hütten ist das Thema „Ableben“ kein Tabu. Er möchte, dass jeder darauf vorbereitet ist und wichtige Ängste abbauen kann. Er möchte mit seinem Buch die ersten und die letzten Fragen klären, die jeder im Verborgenen aufbewahrt.
Sterben lernen – ein Buch über den Abschied vom Leben
Insgeheim möchte jeder wissen, was beim Sterbeprozess vor sich geht. Wie fühlt es sich an, vom eigenen Körper, von allen weltlichen Dingen und von allem, was das Leben ausgemacht hat, Abschied zu nehmen? Kann man damit seinen Frieden machen? Wie kann man am Ende einfach loslassen? Wird der „Heimgang“ schwer zu ertragen sein? Was ist mit der eigenen Trauer, der Angst und der Einsamkeit, die den letzten Weg der meisten Menschen begleiten? Was mit der Wortlosigkeit und Heuchelei, die viele Sterbende im letzten Lebensabschnitt erleben. Ist ein Mensch mit einem Körper voller Metastasen tatsächlich „gut davor“? Wie gehen andere mit einer ausbehandelten Erkrankung um?
Das „Tibetische Totenbuch“ hat Antworten auf viele dieser Fragen gefunden – aber diese werden als kulturspezifisch angesehen. Mitfühlende und liebevolle Sterbebegleitung sind im Zen-Buddhismus und in der Hospizhilfe ein Thema. Damit erleichtern ehrenamtliche Helfer die letzten Tage und Wochen von Sterbenden ungemein. Doch nicht jeder kommt in den Genuss solcher Hilfeleistungen. Zahlreiche Autoren haben seit Elisabeth Kübler-Ross wichtige Bücher zum Thema verfasst. Verschiedene Institutionen bilden Trauerbegleiter und Sterbehelfer aus. Das Sterbe-Thema ist uns auch durch eine breitere mediale Verarbeitung und das digitale Miterleben des Überlebenskampfes von Brustkrebs-Betroffenen in sozialen Netzwerken deutlich näher gerückt. Doch im Krankheitsfall ungehemmt darüber zu sprechen, wird dennoch weitgehend vermieden.
Felix Hütten geht in seinem Buch wichtigen Fragen nach. Er fragt, wie man Sterbenden helfen kann, wie es sich anfühlt, nach langer Krankheit loslassen zu dürfen oder welche Dokumente für den eigenen Todesfall vorbereitet sein sollten. Es gelingt dem jungen Medizinjournalisten, unverkrampft an dieses schwierige Thema heranzugehen. Er holt den für jeden eintretenden Sterbefall zurück ins Leben.
Die wichtigsten Fragen zum Thema
Hüttens Tipps über den Umgang mit eingebundenen Medizinern, über medizinische Detailfragen und Termini, über Sterbehilfe in Form des Abstellens von lebenserhaltenden Maßnahmen sind fundiert. Der junge Autor weicht keinem Thema aus. Jeder kann im Laufe seines Lebens einmal oder mehrfach mit dem Ableben konfrontiert werden. Wer sich zeitlebens mit dem eigenen Tod und dem Sterben anderer befasst, kann tatsächlich leichter sterben. Auch wenn man das Ableben zu Lebzeiten nicht im eigentlichen Sinne lernen und üben kann, so kann man doch angstfreier in diesen Prozess hineingehen. Das Buch von Felix Hütten leistet einen wichtigen Beitrag dazu, sich intensiver mit dem eigenen Todesfall zu befassen.
Auch das Ableben nahestehender Menschen ist für viele Menschen eine Zäsur, oft auch ein Trauma. Denn der „Sensenmann“ kommt oft unangemeldet und plötzlich. In diesem Fall bleibt keine Zeit mehr, die wichtigen Dinge zu sagen, die man nie gesagt hat. Vorbereitet zu sein und nicht im Ungewissen zu schweben, kann für alle ein Segen sein. Ein ehrlicher Umgang mit dem eigenen Sterben ist möglich. Dank der Existenz von Palliativstationen und häuslicher Palliativ-Versorgung kann das Sterben sogar ein guter Weg sein. Sterbehilfe ist oft auch Lebenshilfe. Sie hilft Sterbenden, das Leben zu feiern und dennoch zu akzeptieren, dass es endlich ist. Das ist es nämlich immer.
Dass unser Leben von Beginn an auch das Thema Sterblichkeit einschließt, ignorieren wir nur zu gerne. Dabei sterben Tausende von Körperzellen jeden Tag den Zelltod. Sie werden erneuert und sterben erneut. Das gesamte Leben ist ein stetiger Prozess von Werden, Sein und Vergehen. Der Buddhismus lehrt, dass alles permanent im Wandel ist. Nichts ist fest gefügt und verlässlich – nur der Tod. Doch wir versichern das Leben, als wäre die Police ein fester Boden, auf dem sich das alles ignorieren und überwinden lässt. Wir lesen routinemäßig die Todesanzeigen in der Tageszeitung – aber mit uns hat das nichts zu tun. Ein Trugschluss. Eines Tages wachen wir aus der Illusion eines gefühlt ewigen Lebens auf. Oder auch nicht.
Das Buch von Felix Hütten kann uns helfen, angstfrei hinzusehen. Wir sollten die Realität unseres Dahinscheidens nicht auf spätere Wiedervorlage vertagen.
Der Tod ist uns näher gerückt
Immerhin machen viele Menschen sich inzwischen Gedanken um Patientenverfügungen, Sterbehilfe oder Begräbnisformen. Sie lassen ihre Angehörigen frühzeitiger wissen, was sie zu diesem Thema denken und fühlen. Dadurch erleben sie mit geringerer Wahrscheinlichkeit eine Situation, die sie als unmenschlich empfinden würden. Ausschließen können wir diese aber nie. Wir nutzen mittlerweile Digital Memorials, Ruheforste mit Baumbestattungen oder Seebestattungen.
Doch das Buch von Felix Hütten befasst sich mit viel schwierigeren und tiefergehenden Fragen – und das auf eine fast leichtfüßige, niemals aber oberflächliche Weise. Seine Philosophie ist: Wenn wir gut vorbereitet sind, können wir uns die Angst nehmen. Wir können schon im Leben unsere Sterblichkeit annehmen und den Sterbeprozess verstehen. Manchmal sprechen Menschen von einem „gelungenen Tod“. Was bedeutet das aber? Jeder definiert diesen Begriff sicher anders. Es klingt ein bisschen wie ein gelungener Abgang von der Bühne des Lebens. Ob das gelingen kann, ist aber fraglich. Nicht einmal der selbstbestimmte Abschied ist ein gelungener.
Einig sind wir nur in einem: Wir möchten nicht unsinnig lange leiden und keine unaushaltbaren Schmerzen ertragen müssen. Dennoch ist der „Sensenmann“ – wie Gevatter Tod oft genannt wird – oftmals ein einsam machender Geselle. Viele Angehörige schaffen es nicht, einem Sterbenden gegenüber ehrlich mit dem Thema umzugehen. Manchmal mag es richtig sein, die Hoffnung hochzuhalten. Oftmals sind Ehrlichkeit und Offenheit aber ein guter Weg, um Abschied zu nehmen. Die letzten Dinge zu regeln und alles in sicheren Tüchern zu wissen, macht das Loslassen für viele Sterbende leichter.
Was kann einem Sterbenden die Angst nehmen?
Manche Menschen sagen, sie hätten keine Angst vor dem Tod. Viele haben aber umso mehr Furcht vor einem langen und schmerzvollen Sterbeprozess. Da wir auf diesen nicht ausreichend vorbereitet werden – auch von den behandelnden Ärzten nicht – erleben wir auf dem letzten Kilometer oft unnötige Panikgefühle. Oft werden Ängste aber nicht gegenüber den relevanten Personen geäußert. Dabei könnten viele Instanzen einem die Angst nehmen: Palliativ-Helfer, Seelsorger, Sterbebegleiterinnen oder Mediziner. Vermeintlich kämpfen wir im Sterbeprozess um unser bisschen Restleben. Tatsächlich aber verweigern wir dem Moment des Todes den Eintritt – oft um den Preis verlängerten Leidens. Gewinnen kann diesen Kampf niemand. Es ist uns von Anfang an vorbestimmt, eines Tages zu gehen. Wir wissen nur nicht, wann und wie.
Ein guter Weg wäre es, wenn alle Instanzen sich Zeit für den Sterbenden nehmen. Wenn das eigene Ableben wieder ganz natürlich zum Leben gehören würde, statt zur ritualisierten Abfallentsorgung zu verkommen. Im Medizinbetrieb ist mitmenschliches Handeln oft nicht möglich. Hier leistet man keine Lebenshilfe, sondern medizinische Überlebenshilfe – oft um jeden Preis. Ist auch das nicht mehr möglich, schiebt man die Sterbenden in einen Abstellraum, um einen Bettenplatz frei zu bekommen. Die angeblich unantastbare Menschenwürde gerät dabei häufig aus dem Blick.
Auf einer Corona-Intensivstation oder einem Stroke-Unit seinen letzten Gang zu gehen, ist alles andere als würdevoll. Was aber macht das eigene Ableben menschenwürdig? Viele Menschen verstehen unter einem menschenwürdigen Versterben eine selbstbestimmte Todesart. Doch das ist nicht immer umsetzbar. Ein Grund mehr, sich mit den Realitäten des Lebens und seiner Endlichkeit zu befassen. Jetzt. Das Buch von Felix Hütten bietet Lebenshilfe für die, die dem Abschiednehmen erstmals in die Augen sehen möchten.