Ja, wir dürfen traurig sein!
Ein Plädoyer für aktive Trauerarbeit.
Wer durch eine Buchhandlung streift, dem wird das schier endlose Angebot an Ratgebern auffallen. Kein Wunder, denn in unserer Kultur müssen wir funktionieren und (uns) produzieren. Hat Trauer da überhaupt einen Platz? Es scheint, als seien alle um uns herum glücklich – wie können wir es uns überhaupt erlauben, traurig zu sein? Letztlich mag doch niemand einen „Trauerkloß“ …
Fakt ist, dass es im Leben immer wieder zu Traurigkeit kommt. Als soziale Wesen binden wir uns an Menschen. Wenn diese plötzlich verschwinden, ist die Reaktion meist Schock, Wut, Angst oder Verzweiflung. Plötzlich erscheint die Welt „öd und leer“, wie es der Psychoanalytiker Sigmund Freud einst beschrieb. Es ist normal, schnell wieder zum Glück zurückfinden zu wollen. Ebenso normal ist es aber auch, zu trauern. Gerade wenn ein besonderer Mensch in unserem Leben stirbt oder sich von uns trennt, müssen wir uns die Zeit zum Abschied nehmen. Erlauben wir uns dies nicht, so hat dies mitunter dramatische Konsequenzen für das Heil der Seele. Trauerarbeit? Ja, bitte! Nur durch diese kann eine Bewältigung der Krise stattfinden.
Trauer ist keine „Krankheit“!
In vielen Kulturen spielt Leistungsfähigkeit keine so große Rolle wie bei uns. Auch mit dem Thema „Tod & Sterben“ wird anders umgegangen. Anstatt den Verstorbenen schnell unter die Erde zu bringen, wird er zu Hause aufgebahrt. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es in Deutschland üblich, den Toten erst zur Beerdigung aus seiner Wohnstätte abzuholen. In der Zwischenzeit hatte die ganze Familie genügend Zeit, sich zu verabschieden. Es ist normal, die Trauerphase schnell hinter sich bringen zu wollen, denn wir möchten wieder glücklich sein. Auch nach einer Trennung vom Partner zeigt sich dieser Wunsch überdeutlich. Anstatt uns selber Zeit zu geben, mischen wir uns wieder unter die Menschen, um den Verlust zu überwinden. All diese Verhaltensweisen tragen dazu bei, dass Trauer als etwas „Lästiges“ empfunden wird. Im schlimmsten Fall schämen wir uns dafür, (zu lange) traurig zu sein.
Wir haben es allerdings keineswegs mit einer Krankheit zu tun, sondern einer normalen psychischen Reaktion auf Verlust. Es geht dabei um die Überwindung einer emotionalen Krise und der Herstellung unserer psychischen Gesundheit. Wirklich krankhaft wird es erst dann, wenn wir unsere Tränen herunterschlucken. Eine Auseinandersetzung mit dem Schmerz tut weh, aber ist notwendig, um den Heilungsprozess zu beschleunigen.
Dr. Michael Schüler, Chefarzt einer psychiatrischen Klinik in Bayreuth, warnt davor, sich der Herausforderung nicht zu stellen. Wer keine Trauerarbeit leiste, der riskiere eine klinische Depression. Während man Traurigkeit eigenständig überwinden kann, bleibt die Depression bei uns und nimmt uns die Energie zum Leben. Gerade weil in unserer Kultur der gesunde Umgang mit Verlust nicht mehr geübt wird, steht jeder Betroffene selber in der Pflicht, die richtigen Wege zu beschreiten. Auch wenn es sich anfühlt, als würden wir innerlich zerreißen.
Das Phasenmodell der Trauer
Auf Sigmund Freud und Kübler-Ross geht die Idee des „Phasenmodells“ zurück. Dabei durchlaufe der Trauernde verschiedene Phasen:
- Verleugnung: Gerade bei plötzlichen Todesfällen möchte man das Geschehene nicht wahrhaben. Der Betroffene tritt oft in einen Schockzustand, einer Art Trance. Er fühlt sich wie betäubt und streitet ab, dass der Verlust eingetreten ist. Diese Phase kann Stunden, aber auch Tage anhalten.
- Emotion: Wenn der Verlust realisiert wurde, reagiert jeder anders – aber immer mit starken Gefühlen. Vielleicht ist dies Wut. Möglicherweise aber auch Ohnmacht und Selbstzweifel. Manche Menschen reagieren mit Angst und Panik. Das bisherige Leben wird durch den Verlust auf den Kopf gestellt. Körper und Geist suchen antworten darauf mit heftigen Emotionen.
- Verhandeln: Jetzt beginnt die Zeit aktiver Auseinandersetzung. Man fragt sich etwa, warum gerade ER oder SIE hat sterben müssen. Oder: „Weshalb hat sich mein Partner von mir getrennt?“. Neben all diesen Fragen, die auftauchen, zeigt sich nun aktive Trauerarbeit. Wir besuchen besondere Orte, schauen uns Bilder an und erinnern uns an das, was nun unwiderruflich vergangen ist. Dabei ist es typisch, die Vergangenheit (und den Menschen) auf ein Podest zu hieven. Negatives wird ausgeblendet.
- Akzeptanz: Zum Schluss nehmen wir den Verlust hin und gewinnen einen realistischen Überblick dessen, was geschehen ist. Oftmals wird diese Phase auch als ein „loslassen“ bezeichnet, denn wir gewinnen neue Perspektiven für unser Leben. Die Zeit des Rückzugs ist jetzt vorbei und wir sind bereit für etwas Neues.
Lange Zeit hat man geglaubt, das Phasenmodell sei immer und vollumfänglich gültig. Erst in neuer Zeit haben Therapeuten einen Paradigmenwechsel angemahnt.
Den Verlust schnell überwinden?
Wenn Bindungen gewaltsam gelöst werden, dann ist dies immer eine große psychische Belastung. Sofort entsteht bei uns der Wunsch, den Verlust schnell zu überwinden. Es ist jedoch nicht sinnvoll, uns damit zu überfordern. Es gibt kein „richtiges“ Trauern, denn jeder Mensch reagiert anders auf Verlust. Mit Rückschlägen ist immer zu rechnen, doch dies ist nicht weiter schlimm. Der gesamte Prozess sollte als Hilfe verstanden werden, um psychisch zu gesunden.
Von einem krankhaften Trauern wird dann gesprochen, wenn man nach einem Jahr der Alltag noch immer beschwerlich erscheint. Ob diese Kategorisierung nach DSM-5 richtig ist, wird von Experten jedoch in Zweifel gezogen. In letzter Zeit wenden sich immer mehr Therapeuten vom Phasenmodell ab. So empfiehlt der Psychotherapeut Patrick O’Malley Betroffenen, sich genügend Zeit zu geben. Zudem solle man sich auch von dem Gedanken verabschieden, das Gefühl des Verlusts würde irgendwann wieder verschwinden. Folgt man dieser Ansicht, so kommt man zu dem Schluss, dass es sinnlos sei „loszulassen“. An die Stelle der Überwindung tritt ein offensiver Umgang mit Trauergefühlen. Doch wie sieht das genau aus?
Fortgeführte Beziehungen
Sätze wie „Er wird immer in meinem Herzen bleiben“ oder „Sie bleibt immer bei mir!“, klingen irgendwie abgedroschen. Der Gedanke dahinter spendet jedoch mehr als nur Trost. Anstatt Verluste zu überwinden, werden diese das Leben des Trauernden integriert. Der Therapeut Robert Neimeyer spricht in diesem Zusammenhang von „continuing bonds“. Anstatt uns von der verlorenen Person zu lösen, pflegen wir weiterhin eine Beziehung zu dieser. Anstatt den geliebten Menschen aus unserem Kopf zu verbannen, bekommt er einen Ehrenplatz zugewiesen.
Doch wie kann ein solches bewusstes Gedenken aussehen? Zum Beispiel so, dass wir uns im Freundes- und Familienkreis an gemeinsam erlebtes Erinnern. Orte, Objekte und Tage, die uns an den verlorenen Menschen erinnern, versuchen wir nicht mehr zu verdrängen. Stattdessen nehmen wir jede Chance wahr, um uns liebevoll an das, was wir einst hatten, zu erinnern. Auch wenn der geliebte Mensch nicht mehr präsent ist, so lebt er doch in unserem Herzen weiter. So kommt es zu einem Ausgleich zwischen Schmerz und Realität. Wir versöhnen uns mit dem, was geschehen ist, indem wir das Andenken ehren.
Vertrauen und Selbstliebe
Es ist eine natürliche Reaktion, Trauer schnell überwinden zu wollen. Wer möchte schon gerne leiden? Unterstützt wird dieser Impuls auch durch unsere Kultur. Wir haben das Gefühl, uns negative Gefühle nicht mehr leisten zu können. Dies ist deshalb problematisch, weil das Leiden nach einem Verlust uns dabei hilft, wieder neuen Mut zu schöpfen. Auf keinen Fall sollte man sich mit Alkohol oder anderen Drogen betäuben. Sinnvoller ist es, den ganzen Prozess aktiv zu gestalten. Dabei ist es oft sehr hilfreich, sich Hilfe zu suchen. Ein Therapeut kann Wege aufzeigen, wie der Verlust in den Alltag integriert werden kann. Anstatt den geliebten Menschen loszulassen und ihn zu „vergessen“, akzeptiert der Trauernde, was passiert ist und erinnert sich liebevoll an das, was einst war. So kann neues Selbstvertrauen geschöpft werden.
Eine solche Erinnerungskultur ist auch ein Zeichen von Selbstliebe. Anstatt dass wir uns als fehlerhafte Wesen begreifen, die den Schmerz nicht ertragen können, geben wir uns all die Zeit, die wir brauchen. Weil wir es uns wert sind, gehen wir mit Verlustschmerz offensiv um und gedenken der Vergangenheit – in Zärtlichkeit.