Der Tod und die Entscheidungsgewalten
Der Fall des zwölfjährigen Archie Battersbee entfacht die Diskussion um lebenserhaltende Maßnahmen neu.

Wann ist ein Mensch tot? Kann man einen Menschen für tot erklären, wenn er mithilfe von Geräten augenscheinlich lebt?
Menschen, die in einen Tiefschlaf, ein Koma, fallen oder in einen künstlich herbeigeführten Tiefschlaf versetzt werden, bleiben durch den Einsatz medizinischer Geräte zur Aufrechterhaltung der wichtigsten Körperfunktionen am Leben. Das Koma, ausgelöst durch Krankheit, Sauerstoffmangel oder äußere Einwirkungen, kann mit mehr oder weniger ausgeprägten Beeinträchtigung des Hirns der Betroffenen einhergehen. Je nach Grad der Schwere einer Schädigung und der betroffenen Region kann ein unumkehrbarer Funktionsausfall des Hirns eintreten. Mit dem Ausfall der Atmung und der anhaltenden Sauerstoffunterversorgung stirbt das Hirn – der Mensch ist hirntot.
Hirntot heißt medizinisch, das Leben ist zu Ende. Maschinen ersetzen lebenswichtige Funktionen, die die Organe nicht sterben lassen – damit entsteht der Eindruck, der Mensch sei am Leben.
Mit dieser zwiespältigen Sachlage retten Tausende von Menschen mit ihren Organen das Leben anderer, wenn sie sich bereit erklärt haben, einer Organspende zuzustimmen. Sie sind tot, wenn sie hirntot sind – ihre Organe aber leben noch. Über sie kann medizinisch verfügt werden – für ein Leben nach ihrem Tod.
Lebenserhaltende Geräte werden dann eingesetzt, wenn ein Mensch durch sie am Leben erhalten bleiben und die Prognose einer Besserung erwartet werden kann. Wird der totale Ausfall von Hirnstammreflexen festgestellt, wird der Hirntod diagnostiziert. Die Macht dieser schweren Entscheidung liegt bei den Fachärzten auf der Grundlage von Gesetzen.
Das Recht in einer humanen Gesellschaft schützt den Menschen gegen Eingriffe in seine höchst persönlichen Angelegenheiten. Wenn der Staat die Macht hat, folgenschwere Entscheidungen über Menschen zu erlauben, muss er dies in verantwortungsvoller Abwägung aller Interessen tun. In der modernen humanen Gesellschaft mit einer demokratischen Grundhaltung ist das so oder es sollte so sein. Bestehen Zweifel daran, kann die den Ländern vorstehende „übermächtige Instanz“ die Richtigkeit des Vorgehens prüfen und ein letztes Machtwort sprechen, wenn das Menschenrecht gefährdet scheint. Der Verstand und die Rationalität sind damit versorgt.
Was aber ist mit dem Willen, entstanden aus dem humansten des menschlichen Lebens, der Liebe?
Wenn unermesslicher Schmerz Motivation ist
Im Fall des 12-jährigen Archie Battersbee rangen seine Eltern um das Recht, die Organe ihres Sohnes durch lebenserhaltende Geräte funktionstüchtig zu halten. Sie haben die Hoffnung auf wiederkehrendes Leben ihres Sohnes nicht aufgegeben.
Nach einer vermutlichen TikTok-Mutprobe erlitt Archie durch einen extremen Sauerstoffmangel Hirnschäden, die die autonome Funktionsfähigkeit der Organe des Jungen seit Monaten unmöglich machen. Archie liegt im Koma.
Medizinisch ist der Hirntod festgestellt. Nach Auffassung der Mediziner ist eine Genesung des unheilbar kranken Jungen ausgeschlossen – die Geräte für lebenserhaltende Maßnahmen sollen abgeschaltet werden. Gerichtliche Urteile bestätigten diese Entscheidungen.
Archies Zustand ließe nach medizinischem Ermessen auch keine Verlegung in ein Hospiz zu, die seine Eltern beantragt haben. Die Eltern wollen damit ihrem Sohn einen würdevolleren Weg in den Tod ermöglichen.
Die Anrufung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte durch die Eltern führte zu keiner Änderung der Entscheidungen der Gerichtsbarkeit in Großbritannien.
Die Macht des Geldes
Die Rechtsstaatlichkeit eines Landes basiert auf dem geltenden Recht herbeigeführter Entscheidungen. Gesetze und deren ausführende Bestimmungen bilden den Rahmen. Damit sind Willkür ausgeschlossen und das Ermessen in vielen Fällen ist auf null gesetzt. Auch wenn es um das Leben oder die Feststellung über deren Ende geht. Gut so für die, die sich professionell frei von Emotionen in diesem Rahmen bewegen dürfen, wohl wissend, dass die Gesetze für ihre Entscheidungen nicht losgelöst von der Frage nach der Entstehung von Kosten erlassen wurden.
Lebensverlängernde Maßnahmen kosten Geld.
Je nach finanzieller Lage des Gesundheitswesens eines Staates werden auf der Basis gesetzlicher Bestimmungen lebenserhaltende Maßnahmen länger gewährt oder schneller entzogen und die vermutlichen Rechte des Betroffenen oder der Angehörigen mehr oder weniger berücksichtigt.
Der Wert ethischer Grundsätze ist ein hohes Gut in einer modernen Gesellschaft. Nicht immer findet es in staatlichen Normen seinen Niederschlag.
Im Fall von Archie Battersbee scheinen der Aufwand und die damit verbundenen Kosten für die Verlegung des unheilbar kranken Jungen in ein Hospiz keinen Sinn zu ergeben.
Der quälende Widerspruch in sich
Können Geräte Leben erhalten, was bereits als tot gilt?
Archies Leben soll nach der Gesetzeslage in Großbritannien durch aktives Handeln der Mediziner endgültig zu Ende sein. Kann beendet werden, was bereits zu Ende ist?
Mit dem Einsatz lebenserhaltender Maßnahmen bei unheilbar Kranken würde nach Auffassung der Mediziner, wie im Fall von Archie Battersbee, das Sterben verlängert.
In ähnlichen Fällen ist eine Patientenverfügung entscheidend. Unter Wahrung der Selbstbestimmtheit regelt sie, wie entsprechend dem Willen der Betroffenen gehandelt werden soll. Dadurch ist die Last der schwierigen Entscheidung den Angehörigen und den Ärzten genommen. Die Hinterbliebenen sind damit frei für die Trauer – das Zurücklassen und das Bleiben ohne Schmerz. Die lebenswerte Zeit der Hinterbliebenen hat existenzielle Bedeutung, umso mehr, wenn ein todbringendes Ereignis mit enormer Wucht des Unvorhergesehenen eingetreten ist.
Für den Jungen stehen stellvertretend seine Eltern am Krankenbett. Sie akzeptieren den Hirntod nicht und haben entschieden, ihren Sohn nicht endgültig, unwiederbringlich durch das Abstellen von Hilfsmaßnahmen dem Tod gänzlich zu überlassen. Hat ein Gesetz die Kraft, diesen Willen zu brechen?
Ethische und moralische Werte der Menschen sind denen der im Gesetz verankerten Werten der Gesellschaft untergeordnet und damit auch der Mensch als Individuum. Die Würde des Menschen ist unantastbar – alles hat zwei Seiten.
Über Archies Leben ist bereits entschieden worden.
Der Kampf zwischen Vernunft, rationalem Denken und der Liebe
Dass die Funktionen der Organe eines Menschen künstlich in Betrieb gehalten werden oder auch nicht, kann der Verstand erfassen. Alles, was neben ihm auch existiert nicht. Es ist das, was den Menschen ausmacht.
Soziale Bindungen, der natürlichen Art oder von starken Emotionen geknüpft, sind lebensbestimmend. Ereignisse wirken besonders zerstörerisch, wenn sie mit plötzlich und mit Macht Bande zerreißen.
Es ist ein ungleicher Kampf, wenn es um die Entscheidung um Leben oder Tod geht. Der Verstand hat keine Chance, gehört zu werden, wenn Liebe und Zuneigung das rationale Denken unmöglich machen. Besteht Aussicht, mit Liebe vernünftige Entscheidungen zu treffen? Auch dann, wenn neben Kopf und Bauch das Herz als dritte Gewalt mit enormer Stärke eine übermächtige Rolle spielt.
Einen Ausweg finden – gehen und gehen lassen
Am Ende entscheidet die Natur. Aber solange es Hoffnung gibt, scheint es unmöglich, sich der Natur geschlagen zu geben. Besonders dann, wenn Angehörige aktiv Beteiligte sind.
Ein Aufgeben scheint einem Verrat gleichzukommen. Wer lässt einen geliebten Menschen im Stich? Mit welchen Argumenten ist das Weiterleben möglich? Welchem Weg kann vertraut werden?
Ist es die Überzeugung, das Richtige zu tun oder ist es das Überlassen an die Macht des Schicksals?
Einen persönlichen Ausweg zu finden, braucht Zeit. Das ist unter Druck von Fristen unmöglich.
Wenn am Ende die Frage nach dem Sterben in Würde und der des würdevollen Abschiednehmens stehen, ist ein Anfang für das Ende gemacht. Für den Weg dahin könnten Lösungsansätze sein:
- Zeit gewinnen
- Klarheit für sich selbst schaffen
- mit medizinischen Feststellungen auseinandersetzen
- eine weitere professionell gesicherte Meinung einholen
- eine Ethikberatung annehmen
- Beistand suchen
- Unabwendbares akzeptieren
- Einsicht in die Notwendigkeit erlangen
- loslassen für den einzig akzeptablen Weg
- würdevoll Abschied nehmen
umheilbar
Quellen:
www.wikipedia.org
www.flexikon.doccheck.com
www.ethik-trifft-leben.de