Anhaltende Trauerstörung
Der Verlust eines Menschen macht traurig. Das ist normal. Was aber, wenn diese Trauer einfach nicht enden will?
Trauer wird häufig als komplexes Gefühlschaos wahrgenommen. Dieses überfällt Trauernde oft unvermittelt, häufig aber auch nach längerer Vorbereitung durch eine zum Tode führende Erkrankung. Doch auch dann ist der Trauer- und Verarbeitungsprozess nicht unbedingt leichter.
Trauerprozesse werden in verschiedene Phasen unterteilt. Diese treten jedoch nicht in logischer Folge ein, sondern in stetigem Wechsel. Mit der Zeit kommt es meist zur Akzeptanz dessen, was nicht zu ändern ist. Anders ist es aber bei der „Anhaltenden Trauerstörung“ (ATS). Diese wird im englischen Sprachraum als „Prolonged Grief Disorder“ (PROGRID) bezeichnet. Dieser Zustand wurde erst 2022 als psychische Störung im ICD-10 aufgenommen. Die WHO führt diesen Begriff aber schon seit 2019. Denn Trauer, die trotz einer gebührenden Zeit der Verarbeitung nicht losgelassen werden kann, macht häufig krank.
Von Trauernden, die einen Menschen verloren haben, erwartet die Gesellschaft nach einer gewissen Zeit, dass sie wieder funktionieren. In unserer Gesellschaft wird der Tod tabuisiert. Doch Traurigkeit kann sich auch nach einer Scheidung in der Seele einzementieren. Der Umgang mit anhaltend Trauernden ist nach anfänglichem Mitgefühl oft von Unverständnis und Ungeduld geprägt. Die Symptome einer anhaltenden Trauerstörung sind jedoch nicht einfach per Entschluss zu beenden. Etwa drei Prozent der Trauernden können den Verlust nicht akzeptieren. Sie lassen die damit verbundene Trauer nicht los. Diese Menschen benötigen fachkundige Hilfestellungen, um wieder ins Leben zu finden.
Trauer, die nicht mehr weichen will
Für viele Trauernde ist nichts mehr, wie es war. Ihr Leben ist aus dem Ruder gelaufen. Sie befinden sich in einem Teufelskreis aus Traurigkeit, Hilflosigkeit, Überforderung, Verlassenheitsgefühlen, Ängsten, Wut und Verzweiflung. Solche Menschen benötigen psychologische Beratung und fachkundige Hilfe. Andere schaffen es mit Hilfe guter Freunde, Selbstfürsorge und Selbsthilfe, aus diesem Teufelskreis auszusteigen. In einem Spiegel-Artikel zum Thema „Tod und Trauer: Wie lange darf man trauern, Frau Rosner?“ wurde das Thema am 12.4.2022 per Interview mit einer Psychologin bearbeitet. Damit war es in der Öffentlichkeit angekommen.
Als anhaltende Trauerstörung wird Traurigkeit angesehen, die zu Funktionseinschränkung im Alltag führt. Sie beinhaltet ein starkes Bedürfnis, sich permanent mit dem Verstorbenen zu befassen. Dabei kommt der Trauernde selbst zu kurz. Halten der emotionale Schmerz und die Gefühlstaubheit über ein Jahr an, kann von einer anhaltenden Trauerstörung ausgegangen werden. Fakt ist: Trauer ist ein individueller Verarbeitungsprozess. Es gibt zwar Hilfestellungen, aber keine Abkürzung. Die Verarbeitung eines Verlustes dauert unterschiedlich lange. Die Erwartungen des Umfeldes sind dabei eher hinderlich als förderlich, um mit dem Verlust abschließen zu können.
Anhaltende Trauer und Traurigkeit
Wer eine pathologische Trauerreaktion entwickelte, wurde in der Vergangenheit als Versager angesehen. Heute wird er als krank erkannt. Er kann Hilfsangebote in Anspruch nehmen und hat sogar einen Anspruch darauf. Die psychische Belastung von Trauernden ist oft immens. Vielfach sind Kinder zu versorgen, endlose Erledigungen durch den Todesfall zu tätigen. Kommen noch Schulden hinzu und der Versorger entfällt, platzt das gewohnte Leben auseinander. Der Schock über den Verlust sitzt tief. Die dramatischen Auswirkungen des Verlustes für das gesamte Leben schwimmen den Betroffenen erst nach und nach ins Bewusstsein.
Noch ist nicht eindeutig festgelegt, welche Symptome zur anhaltenden Trauerstörung gehören und welche eher auf eine anhaltende Depression hinweisen. Anhaltende und tiefe Traurigkeit und Depressionen sind nicht identisch. Sie können aber ineinander übergehen. Das macht es so schwer, beides voneinander zu trennen. Oft ist auch die Rede von einer „Posttraumatischen Belastungsstörung“ (PTBS). Auch diese ist nicht dasselbe wie eine anhaltende Trauerstörung. Dem neuen Krankheitsverständnis derselben entsprechend, gibt es derzeit mehrere diagnostische Ansätze, um die anhaltende Trauerstörung zu definieren.
Trauer ist individuell, aber auch kulturell geprägt
Wie wir trauern und mit dem Verlust eines uns nahen Menschen umgehen, ist kulturell unterschiedlich. Während trauernde Chinesen an Bauchschmerzen leiden, trauern die Deutschen ganz anders. Sie fühlen sich oft einer Hälfte ihrer selbst beraubt. Die Sichtweise des eigenen Selbst als unvollständig ist nicht kulturübergreifend zu finden. Der Verlust eines Partners wird hierzulande oft als Amputation wahrgenommen. Das erschwert ein Loslassen. Hinzu kommen oft Schuldgefühle und Ängste – zum Beispiel vor Einsamkeit oder einer finanziellen Notlage. Die Symptome der anhaltenden Traurigkeit müssen bei Hilfsangeboten genauso beachtet werden wie ganz praktische Alltagshilfen.
Der „Deutsche Hospiz- und Palliativverband“ wandte sich schon 2018 dagegen, anhaltender Trauer den Stempel der Erkrankung aufzudrücken. Jeder trauert demnach anders. Er benötigt für den Verarbeitungsprozess einen individuellen Zeitraum. Das Bild der anhaltenden Trauer als Störung zu bezeichnen, werde dem individuellen Trauerprozess nicht gerecht. Dieser bietet auch Chancen auf innere Veränderungsprozesse und einen Neustart. Wer jedoch anhaltende Traurigkeit als ein gegen „erwartbare soziale, kulturelle oder religiöse Normen“ verstoßendes Verhalten ansieht, setzt der Trauer eine Grenze. Er nimmt als gegeben an, dass der Trauerprozess nach sechs Monaten abgeschlossen sein sollte.
Diese Sichtweise führt dazu, dass allen länger andauernden Trauerprozessen ein Krankheitswert unterstellt wird. Sie betrachtet die Symptome anhaltender Trauer als „Funktionseinbuße“ mit sozialen, familiären und psychologischen Folgen. Doch beim Trauerprozess geht es um mehr als um das schnelle Funktionieren.
Anhaltende Trauer kann gelindert werden
Es geht beim Trauern darum, Abschied zu nehmen – auch von eigenen Hoffnungen, Vorstellungen und Idealen. Kulturelle, religiöse und soziale Normen, die einem Land mit einem tabuisierten Tod entstammen, bieten keine gute Gebrauchsanweisung für die Bewältigung solcher Verluste.
Viele Betroffene sagen, man könne nach und nach mit der Trauer leben lernen. Der Schmerz über den Verlust werde mit der Zeit gelindert. Er verschwinde aber nie ganz. Doch man fühlt sich zu gegebener Zeit in der Lage, wieder mehr am Leben teilzunehmen. Manchen Menschen gelingt das jedoch nicht. Sie haben kein Konzept für das Alleinleben. Sie empfinden ihr Leben als sinnentleert und freudlos. Daher ist es bei spürbarer Überforderung und starker psychischer Belastung wichtig, Hilfsangebote anzunehmen. Die psychische Belastung kann durch Selbstfürsorge und soziale Kontaktpflege minimiert werden.
Trauernde sollten sich neben aller Trauer immer wieder dem Leben zuzuwenden, um Kraft zu schöpfen. Professionelle Trauerbegleitung kann dabei ebenso hilfreich sein wie psychologische Beratung oder Gespräche mit Freunden. Verarbeitungsstrategien für seelische Krisen müssen von den Betroffenen oft erst erarbeitet werden. Präventiv ist das nicht möglich. Wer sich nach dem Tod des Ehepartners sofort in eine neue Beziehung flüchtet, ohne dem Verarbeitungsprozess zu vertrauen, verpasst wichtige Entwicklungsschritte. Die meisten Betroffenen können nach entsprechenden Hilfsangeboten wieder ins Leben zurückfinden.
Trauern kann nicht vorbereitend geübt werden
Die Psychologin Rita Rosner, mit der das oben erwähnte Interview im Spiegel-Artikel geführt wurde, arbeitet seit zwanzig Jahren mit Trauernden. Die anhaltende Trauerstörung gehört neben anderen psychischen Störungen zu ihren Forschungsschwerpunkten. Ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer anhaltenden Trauerstörung sieht Rosner in den jeweiligen Todesumständen und der Art des Verlustes, sowie der Umstände, unter denen die Bewältigungsprozesse ablaufen.
Wer wegen einer anhaltenden Trauerstörung nicht mehr zur Selbsthilfe fähig ist, ist auf die Hilfsangebote anderer Instanzen und guter Freunde angewiesen. Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen und anhaltende Trauerstörungen können zwar eine Komorbidität haben. Sie unterscheiden sich aber dennoch in wesentlichen Punkten. Rosner hält Antidepressiva für einen falschen Weg, um mit der Trauer zurechtzufinden. Aus ihrer Sicht darf die Trauer ein Jahr oder länger anhalten, ohne automatisch einen Krankheitswert zu haben. Der Krankheitswert bemisst sich nicht an der Dauer der Traurigkeit, sondern an ihrer nicht nachlassenden Intensität, der damit verbundenen inneren Leere und dem Gefühl, das eigene Leben sein nun sinnlos.
Rosner sieht in der trauerfokussierten kognitive Verhaltenstherapie (KVT) den besten Ansatz, anhaltend trauernden Menschen Hilfestellungen zu geben. 2021 wurde mit der „PROGRID“-Studie eine Multicenterstudie zum Thema „anhaltende Trauerstörung“ begonnen. 200 Betroffene mit Symptomen anhaltender Trauer wurden in vier deutschen Großstädten entweder mit trauerfokussierter kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) oder mit einem Gegenwarts-akzentuierten Therapieverfahren behandelt. Die Ergebnisse dieser Studie werden vermutlich in absehbarer Zeit veröffentlicht. Sie könnten Aufschluss darüber geben, welche Art der psychotherapeutischen Intervention wirklich sinnvoll ist.
Der Teufelskreis der Trauer kann zwar nicht unterbrochen, aber effektiv unterstützt und gelindert werden. Inwieweit dabei auch vorübergehend pflanzliche Beruhigungsmittel und andere Medikamente einbezogen werden, ist unterschiedlich
Quellen:
https://www.gesund-vital.de/kompakt/anhaltende-trauerstoerung