Trauern in der Schule
In der Pandemie sind Kinder und Jugendliche anders mit dem Thema Tod konfrontiert als zu normalen Zeiten

Gerade den Jüngsten fordert die Corona-Pandemie viel ab. Neben den Einschränkungen in Schule und Freizeit werden sie auch in ungewohnter Weise vom Thema Tod und Trauer betroffen. Quelle: 123rf.com / Foto: Cathy Yeulet
In der Corona-Pandemie haben viele Familien einen Angehörigen oder Freund verloren. Kinder wurden vielleicht zum ersten Mal mit Tod und Trauer konfrontiert. Wie können Lehrkräfte Kindern in einer solchen Situation helfen? Inwieweit ist Trauerarbeit während der Schulschließungen möglich? Wie sollte das Thema Tod und Trauer in der Schule überhaupt stattfinden?
Viele Familien erleben durch die Corona-Pandemie jetzt Todesfälle. Welche Unterstützung kann Schule dabei geben?
Brigitte Lob: Schule ist in dieser Situation für die Kinder und Jugendlichen sehr wichtig. Dort wo Unterricht vor Ort stattfindet, gibt Schule ein Stück Alltag und Normalität zurück. In den Familien herrscht ja nach einem Todesfall Ausnahmezustand. Eltern sind oft hilflos und sprachlos. Dann entlastet sie es, wenn die Kinder durch die Schule ein Stück begleitet werden können. Schule hilft dabei, aus der Traueratmosphäre zu Hause herauszukommen.
Jetzt sind die Schulen aber für die meisten Kinder geschlossen. Wie funktioniert Trauerbegleitung, wenn Schule nicht vor Ort stattfindet?
Der erste Schritt ist immer, sich bei der Familie zu melden und Hilfe anzubieten. Das ist zugleich auch die größte Hürde. Dabei reicht es, einfach anzurufen und zu sagen: „Wir wissen, was passiert es. Es tut uns leid. Wir würden gern Ihr Kind unterstützen.“ Gut ist es dann, mit dem Kind selbst ins Gespräch zu kommen. Neben den Telefonaten gibt es auch die Möglichkeit, im Chat Kontakt mit dem Kind zu halten oder mit ihm spazieren zu gehen. Was das Beste ist, hängt auch von dem Kind ab. Und es ist auch gut, die Mitschülerinnen und Mitschüler der Klasse zu ermutigen, sich bei dem Kind zu melden. Allerdings sollte man die Klasse auf solch ein Gespräch auch gut vorbereiten.
Beim Umgang mit Tod und Trauer in der Schule die ganze Klasse einbeziehen
Was kann denn passieren?
Manchmal will das betroffene Kind nicht sprechen, sagt gar nichts oder weint nur. All das ist in dieser Situation normal, aber für das Gegenüber nicht leicht auszuhalten. Trotzdem ist es wichtig, sich zu melden und zu signalisieren, dass man da ist. Denn Trauer führt häufig dazu, dass die Betroffenen in die Isolation kommen, weil das Umfeld sich nicht traut, auf sie zuzugehen.
Den Betroffenen tut es auch oft gut, wenn die anderen Kinder von ihren eigenen Trauererfahrungen erzählen. Vielleicht haben sie noch kein Familienmitglied verloren, aber möglicherweise schon mal den Verlust eines Haustieres betrauert. Dann können sie darüber sprechen, was ihnen in der Situation gutgetan hat. Und die Betroffenen merken, dass sie nicht allein mit ihrer Trauer sind.
Es ist auch wichtig, in der Klasse über solche Erfahrungen zu sprechen. Das bindet die Gruppe zusammen, es gibt den Kindern Sicherheit und die Möglichkeit, die eigene Trauer und Betroffenheit zu verarbeiten. Dabei können sich Lehrkräfte auch von Schulpsychologinnen und Schulpsychologen oder Krisenseelsorgerinnen und Krisenseelsorgern unterstützen lassen.
Ein Trauerraum sollte ein Rückzugsort sein, den die Kinder dann besuchen können, wenn sie es wollen.
Welche Wege für Trauerarbeit in der Schule gibt es über das Gespräch hinaus?
Gut ist, wenn die Klasse gemeinsam etwas schafft, bei dem sich jeder einbringen kann. Sie kann zum Beispiel gemeinsam eine analoge oder digitale Trauerkarte gestalten. Wenn die ganze Klasse oder Schule durch einen Todesfall betroffen ist, bietet es sich auch an, einen Trauerraum einzurichten. Dort können Kinder etwas hinterlegen, das sie mit der oder dem Verstorbenen verbindet. Das können Briefe oder Bilder sein. Gerade im Grundschulalter eignet sich Legematerial auch sehr gut – also Steine, Tücher, Holzklötze, Tannenzapfen. Diese Materialien helfen Kindern oft zu sprechen. So ein Trauerort sollte aber nicht im Klassenraum sein.
Auch digitale Trauerräume brauchen eine Begleitung
Warum nicht?
Ein Trauerraum sollte ein Rückzugsort sein, den die Kinder dann besuchen können, wenn sie es wollen. Wenn aber ein Kind aus der Klasse gestorben ist und sein Platz geschmückt wird, ist das eine enorme Belastung für die Kinder und die Lehrkräfte, weil sie ständig mit dem Tod konfrontiert sind und sich nicht davon lösen können. Es fällt ihnen dann sehr schwer, wieder zum Alltag zurückzufinden. Wir raten: Holt das Ganze lieber raus in einen anderen Raum, dann können die Schülerinnen und Schüler selbst entscheiden, wann sie sich mit der oder dem Verstorbenen und ihrer Trauer auseinandersetzen wollen.
Wichtig ist, dass die Kinder möglichst nicht allein in dem Raum sind. Hier sollte immer eine Lehrkraft oder jemand von der Schulseelsorge sein, um die Kinder zu betreuen und mit ihnen zu sprechen.
Jetzt lässt sich in den Schulen kein Trauerraum einrichten. Welche Alternative gibt es?
Man kann auch einen digitalen Trauerraum gestalten. Gerade Jugendliche spricht das ohnehin oft mehr an, und der Zugang ist sehr niedrigschwellig. Allerdings sollte auch hier eine Begleitung durch Lehrkräfte, Psychologinnen und Psychologen oder Seelsorgerinnen und Seelsorger erfolgen, denn die Gefahr ist groß, dass sich die Trauer in einem digitalen Trauerraum verselbstständigt und die Jugendlichen den Raum nicht mehr schließen. Natürlich wollen Jugendliche nicht unbedingt, dass sich auch Lehrkräfte in diesem Raum bewegen, aber zumindest können sie mit den Schülerinnen und Schülern darüber sprechen und ihnen Hilfe anbieten, falls die Jugendlichen das Gefühl haben, von der Trauer überwältigt zu werden.
Nach der Beerdigung den Trauerraum in der Schule schließen
Wie lange sollte ein Trauerraum offen sein?
Es ist gut, einen Trauerraum nach der Beerdigung zu schließen. Ein klarer Zeitpunkt hilft bei der Trauerverarbeitung. Man kann dann zum Beispiel alle Briefe, Bilder oder Fotos, die in dem Raum gesammelt sind, der Familie überbringen, damit diese Botschaften und Erinnerungen nicht einfach verschwinden, sondern einen Platz an einem anderen Ort finden. Oder die Kinder können das, was sie geschrieben oder gemalt haben, ans Grab legen. Es ist wichtig, den Trauerort dann aus der Schule zu holen, damit Kinder es schaffen, wieder in den Schulalltag zurückzufinden.
Inwieweit sollten Lehrkräfte auch die Eltern in die Trauerverarbeitung einbeziehen?
Für die betroffenen Eltern ist es wichtig zu wissen, dass die Schule Anteil nimmt an ihrer Trauer. Aber es ist eine Überforderung, wenn sich die Lehrerinnen und Lehrer in dieser Situation auch noch um die Eltern kümmern. Sie können höchstens Kontakte zu Seelsorgerinnen und Seelsorgern, Psychologinnen und Psychologen oder einem Trauerverein vermitteln. Aber Eltern tut es meist schon gut, wenn sie wissen: Die Schule hat ein Auge auf mein Kind. Und wenn es über eine längere Zeit Verhaltensänderungen zeigt, dann bekomme ich eine Rückmeldung.
Je ehrlicher ich anspreche, was passiert ist, desto eher gebe ich dem Kind die Chance, das Ereignis als Realität zu akzeptieren und zu verarbeiten.
Und wie sieht es mit den Eltern der anderen Kinder aus?
Wenn es einen Trauerfall an der Schule gibt, der alle betrifft, ist es auch gut, dies offen allen Eltern zu kommunizieren. Schulen können zum Beispiel in einem Elternbrief darüber informieren, was die Schule in dieser Situation unternimmt: Gespräche in den Klassen, ein Trauerraum, Angebote von der Schulsozialarbeit oder Krisenseelsorge. In dem Brief können auch Reaktionen dargestellt werden, die Kinder in dieser Situation zeigen können.
Ich würde Eltern in so einem Brief auch ermutigen, mit ihren Kindern über eigene Trauererfahrungen zu sprechen. Es ist ja für Kinder meist eine ganz neue Welt, die große Unsicherheit auslöst, weil ihnen auch die eigenen Reaktionen so fremd sind. Sie können sprachlos oder wütend sein. In einem Moment müssen sie weinen und im nächsten wieder lachen. Dazu kommen oft Schuldgefühle. Es ist gut, Kinder darauf anzusprechen und ihnen Fragen zu stellen. Das können Eltern aber nur, wenn sie Bescheid wissen. Auch ein Elternabend ist sinnvoll in so einer Situation, damit Eltern ihre Fragen stellen können.
Ist es eine Frage des Alters, wie offen man mit Kindern und Jugendlichen über den Tod sprechen kann?
Unabhängig vom Alter sollte man grundsätzlich offen über den Tod und seine Umstände sprechen. Ich rate dazu, nichts zu vertuschen. Auch wenn es um Suizid geht. Je ehrlicher ich anspreche, was passiert ist, desto eher gebe ich dem Kind die Chance, das Ereignis als Realität zu akzeptieren und zu verarbeiten. Abhängig vom Alter ist aber natürlich, zu welchen Reaktionen ich das Kind motiviere. Jüngere Kinder erleichtert es, die Situation im Spiel zu verarbeiten oder ihre Gefühle in einem Bild auszudrücken. Älteren Kindern tut es oft gut, einen Brief zu schreiben. Bei Jugendlichen hilft oft der Austausch in der Peergroup am meisten. Gut ist auch, altersgemäß Rituale, zum Beispiel im Trauerraum, anzubieten.
Hilfe holen, wenn Verhaltensänderungen längere Zeit andauern
Wie merken Lehrkräfte, wenn ein Kind mit der Trauer überfordert ist und professionelle Hilfe braucht?
Zunächst sind viele Reaktionen normal: Das Kind kann unter Schlaflosigkeit oder Appetitlosigkeit leiden. Auch wenn es sich stark zurückzieht oder heftige Wutanfälle hat, ist das erst einmal normal. Aber länger als etwa sechs Wochen sollten diese Verhaltensänderungen nicht anhalten. Besonders vorsichtig sollte man sein, wenn es um das Thema Suizid geht. Dabei ist es auch wichtig, Jugendliche zu ermutigen, sich auf jeden Fall einem Erwachsenen mitzuteilen, wenn ein Freund oder eine Freundin suizidale Gedanken äußert oder postet.
Aber auch Lehrerinnen und Lehrer sind in einer solchen Situation oft überfordert. Wo bekommen sie Unterstützung?
Bei Trauerfällen helfen die Schulseelsorge, die schulische Krisenseelsorge oder schulpsychologische Beratungsstellen. In der Corona-Krise läuft so eine Beratung vor allem telefonisch. Hilfreich ist außerdem, wenn Lehrerinnen und Lehrer schon mal eine Fortbildung zu dem Thema besucht haben. Dort erfahren sie auch, wie sie sich in einer solchen Situation schützen können.
Zu wenig Fortbildungen zum Umgang mit Tod und Trauer in der Schule
Werden Lehrkräfte in ihrer Ausbildung auf das Trauerarbeit in der Schule vorbereitet?
Ich glaube, das passiert viel zu wenig. Im Bistum Mainz gibt es solche Fortbildungen regelmäßig für Referendarinnen und Referendare sowie für angehende Schulleiterinnen und Schulleiter. Aber da könnte noch viel mehr passieren. Der Bedarf ist auf jeden Fall groß. Die Fortbildungen, die wir regelmäßig für Lehrkräfte anbieten, sind immer ausgebucht.
Hat das Thema Tod und Trauer in der Schule genug Raum?
Auch hier passiert aus meiner Sicht zu wenig. Ich denke, das Thema Tod und Trauer sollte von der ersten Klasse an auf den Lehrplan stehen. Im Fach Religion gehört es zwar dazu, aber die Auseinandersetzung mit dem Tod kann und sollte auch in anderen Fächern stattfinden, zum Beispiel über die Auseinandersetzung mit Literatur. Und vor allem sollte sie in krisenfreien Zeiten stattfinden und nicht erst, wenn es einen Trauerfall an der Schule gibt.
Schule heißt für mich auch Lernen fürs Leben. Und mit dem Tod werden Menschen immer wieder in ihrem Leben konfrontiert – daher ist es gut, wenn sie sich schon früh damit auseinandersetzen; wenn sie wissen, was ihnen in einer solchen Situation guttut und wo sie Unterstützung bekommen. Die Auseinandersetzung mit wichtigen Lebensfragen wie dem Tod sollte sich wie ein roter Faden durch die Schulzeit ziehen.